Wofür es sich zu leben lohnt – oder auch nicht

Erschienen in Lerchenfeld im Februar 2019

Eine Ausstellung in der Kunsthalle am Hamburger Platz in Berlin zeigt Holger Meins als Kunststudenten und verfranzt sich dabei

Das Bild hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt: Holger Meins im Totenbett, bärtig, mit eingefallenen Gesichtszügen. Wie ein Jesus am Kreuz liegt er da, im Leichenhemd, den Kopf auf einem weißen Spitzenkissen ruhend. Der Stern druckte die Fotografie damals, im November 1974, auf einer Doppelseite ab, kurz nachdem Meins als erstes RAF-Mitglied in Haft an den Folgen eines Hungerstreiks verstorben war. Daneben, viel kleiner, das letzte Fahndungsfoto vor seiner Verhaftung im Jahr 1972. Jahrzehnte scheinen zwischen ihnen zu liegen, zwischen dem Bild des verwegen in die Kamera schauenden jungen Mannes und dem des greisenhaften, märtyrerhaft inszenierten Toten.

Die Einladung zur Ausstellung Wofür es sich zu leben lohnt, die Mitte Januar in der Kunsthalle am Hamburger Platz in Berlin zu Ende gegangen ist, wirbt mit einem anderen Bild von Meins. Ein Selbstporträt ist es, Meins trägt ein schwarzes Hemd, das er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hat und posiert spielerisch, aber mit ernsthaftem Blick vor einem Vorhang. Er sieht aus wie das, was er einst war: ein Kunststudent.

Eben diese Rolle des späteren Terroristen steht im Fokus der Schau in der Kunsthalle der weißensee kunsthochschule berlin, die gemeinsam mit dem Institut für Mediengestaltung der Hochschule Mainz konzipiert wurde. Das suggeriert zumindest ihr Untertitel, „Gezeichnet von den 68ern – eine Betrachtung ausgehend vom jungen Kunststudenten Holger Meins“.

Holger Meins studierte nicht in Weißensee, auch nicht in Mainz, sondern von 1962 bis 1965 an der HFBK Hamburg. Danach arbeitete er kurzzeitig beim Film und wechselte 1966 an die damals neu gegründete Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb). Mit Bewegtbild hatte er sich zuvor schon in Hamburg beschäftigt und fand in dem neuen Medium offenbar, was er in seiner künstlerischen Praxis vermisst hatte. Von der Zeichnung und Malerei war er zunächst zur Fotografie gewechselt. Schließlich gründete er gemeinsam mit vier anderen Studierenden die erste Filmklasse an der HFBK Hamburg, für die 1965 Wolfgang Ramsbott als Professor gewonnen werden konnte.

In der Berliner Ausstellung kann man sich Arbeiten aus allen drei Genres ansehen. Auf schmalen Holztischen sind Zeichnungen und Skizzen des jungen Studierenden ausgebreitet – Akte, Selbstbildnisse, Landschaften, Stillleben, ein Tierschädel, eine Frau im Mantel, ein beleibter älterer Mann – dahinter fotografische Studien ab 1965. Darunter auch eine Reihe von Selbstbildnissen, außerdem und retrospektiv gewiss interessante Aufnahmen von Menschen auf der Straße: ein Herr im Anzug, ein Straßenkehrer, eine alte Frau, die sich mit ihren Einkäufen auf den Bordstein gesetzt hat. Kleine Sozialstudien sind es. Genauso wie sein zwölfminütiger Kurzfilm Oskar Lengfeld eine ist. Meins drehte den Film 1966 während seines Studiums an der dffb. Die Dokumentation, die in der Ausstellung zu sehen ist, erzählt vom Leben eines tuberkulosekranken, wohnungslosen Altstoffhändlers aus Berlin-Kreuzberg.

Selten bis nie wurden diese Arbeiten von Meins bislang gezeigt, überhaupt wurde der Künstler in ihm bislang nicht näher beleuchtet. Das nachzuholen ist das Verdienst der Berliner Schau, jedoch vermisst man dabei eine Einordnung. Wie konnte es soweit kommen, dass sich dieser hübsche Kerl, der sich offenbar so gerne selbst ablichtete und romantische Landschaften aufs Papier brachte, nur wenige Jahre später soweit radikalisierte, dass er sich dem bewaffneten Kampf der RAF anschloss? Vielleicht kann es eine schlüssige Antwort darauf gar nicht geben. Der Versuch sie zu formulieren, wird aber auch nicht unternommen. Unvermittelt hängt direkt über dem Bildschirm, auf dem Oskar Lengfeld gezeigt wird, Meins’ Plakat „Freiheit für alle Gefangenen“: eine stilisierte Sonnenblume mit Handgranate als Blütenkorb und den Namen internationaler Guerillagruppen sowie Munition als Blütenblättern.

Unterdessen verliert sich die Ausstellung in anderen Erzählsträngen: Da sind zum einen die sehr sehenswerten und für die Ausstellung neu zusammengestellten Videointerviews aus Gerd Conradts Dokumentarfilm Starbuck Holger Meins aus dem Jahr 2001, in denen sich Zeitzeugen wie Gretchen Dutschke, Rainer Langhans oder Peter Lilienthal äußern, und zum anderen die Arbeiten der Studierenden, die recht divers ausfallen. In der interessantesten Arbeit, Gespräche aufnehmen, hört man zwei Frauen aus den verfeindeten Staaten Iran und Israel dabei zu, wie sie sich über Isolation und Konfliktpotentiale austauschen. Sven Borger legt in einer blutroten Acrylmalerei zwei Porträts von Holger Meins übereinander, darunter das ikonische auf dem Totenbett, und kombiniert das Bild mit Flasche und Zündholz – ein Verweis auf Meins’ verschollenen Lehrfilm über die Herstellung eines Molotow-Cocktails aus dem Jahr 1968. Tamara Stotz vergleicht Aufnahmen Protestierender aus den 1960ern und 1970ern mit jüngeren Bildern von Aktivist*innen unter anderem vom G20-Gipfel in Hamburg oder Protesten gegen Stuttgart 21. Ob die Künstlerin damit auf Kontinuitäten im Kampf um eine vermeintlich bessere Welt hinweisen will? Falls das ihre Intention sein soll, so konterkariert sie diese sogleich selbst mit einer weiteren Arbeit, die sie gemeinsam mit Yehudit Yinhar erarbeitet hat: In Bist du Teil der Lösung oder Teil des Problems? stellen die beiden einer Reihe Studierender der weißensee kunsthochschule – bezugnehmend auf das bekannte Meins-Zitat – eben jene Frage. Reichlich müde fallen die Reaktionen der Studierenden aus. Weit her scheint es an der Kunsthochschule mit der Lust, die Welt zu verändern, nicht zu sein.

Was bleibt? Wofür lohnt es sich nun zu leben? Auch eine Antwort auf die im Titel formulierte Frage bleibt die Ausstellung schuldig.