Immer ein eigener Weg
Erschienen in Monopol, im September 2021
Marion Baruch hatte im vergangenen Jahr ihre erste große Retrospektive. Da war sie 91 Jahre alt. Mit 92 ist sie jetzt auf der “Unlimited”-Sektion der Art Basel zu entdecken
Wenn man genau hinschaut, kann man mitunter erahnen, was da mal herausgeschnitten wurde aus den Textilien, mit denen Marion Baruch arbeitet. Umrisse eines Ärmels zeichnen sich ab, eines Kragens oder Hosenbunds. Seit 2013 dienen Stoffreste, Negativformen von Kleidungsstücken, die in norditalienischen Modeproduktionsstätten als Abfälle übrig bleiben, der 92-jährigen Künstlerin als bevorzugtes Material. Baruch benutzt es genau so, wie sie es bekommt, schneidet nicht noch selbst daran herum. Stattdessen hängt sie die Textilgerippe flach an die Wand oder dreht sie zu girlandenähnlichen Objekten ein, mit denen sie Achsen oder Kurven in den Raum setzt. Die Schwerkraft spielt bei alledem mit hinein, Licht, Schatten. An manchen Stellen hängt der Stoff schlaff durch, sodass die Löcher noch deutlicher sichtbar werden, an anderen erscheint er fest gespannt. Für ihr Projekt bei der “Unlimited”, einer vier Meter hohen und 25 Metr breiten Wandarbeit, hat Baruch solche Stofgirlanden zu runenartigen Symbolen zusammengesetzt, zu archaischen Schriftzeichen, überdimensionierten Ausmaßes.
Marion Baruch gehört zu jener Riege Künstlerinnen, denen erst im hohen Alter größere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Das Kunstmuseum Luzern widmete ihr im Jahr 2020 erstmals eine große Retrospektive. Auch in der Galerie Urs Meile, die Baruch nun auf der “Unlimited” und auch am Stand präsentiert, hatte die Künstlerin erst im vergangenen Jahr ihre erste Ausstellung.
“Entrare nel linguaggio” heißt die neue Arbeit, die einige Anknüpfungspunkte zu Themen bereithält, die sich durch Baruchs vielfältiges, sieben Jahrzehnte umfassendes Werk ziehen: ihre Auseinandersetzung mit Sprache und Verständigung, mit Körpern und deren Normierung, mit Raum und Leere. Der Fokus auf Kommunikation lässt sich biografisch erklären, Baruch, 1929 im rumänischen Timisoara geboren, spricht sieben Sprachen fließens, wechselte vielfach ihren Wohnort, studierte in Bukarest, Jerusalem und Rom, verbrachte viel Zeit in England, lebte für einige Jahre in Paris und nun, seit 2011, in Gallarte nahe Mailand.
Baruchs Kunst war und ist oft eine Antwort auf das, was ihr unmittelbar begegnet, auf soziopolitische und gesellschaftliche Entwicklungen, aber auch auf persönliche Erfahrungen und Gespräche – und auf die Erwartungen, die an sie als Künstlerin gestellt wurden. So experimentierte sie mehrfach mit radikalem Design, produzierte Objekte und Kleidungsstücke. Und was für welche: 1970 erregte sie Aufsehen, als sie in ihrem “Abito-Contenitore”, einem quaderförmigen, den Körper vom Kopf bis zu den Füßen verhüllenden textilen Etwas, die Mailänder Via Monte Napoleone an den teuren Modeboutiquen entlangstolzierte. Anfang der 1990er-Jahre legte Baruch sich als Reaktion auf ihre Erfahrungen mit dem Kunstmarkt – auch auf der Art Basel – das Pseudonym Name Diffusion zu. Das Label ließ sie als Firma sogar ins Handelsregister eintragen, stellte es Kolleginnen und Kollegen für Kooperationen zur Verfügung und veranstaltete unter diesem außerdem partizipative Projekte zu politischen Themen, zu Migration und Sans-Papiers etwa.
Marion Baruch lässt sich nicht vereinnahmen, nicht verorten. Vielleicht liegt es in ihrer wechselvollen Biografie begründet, dem Erleben politischer Ideologien von Faschismus über Kommunismus bis zu Kapitalismus und der Erfahrung, dass zwischen Außenwelten und Innenwelten stets eine Spannung bleibt. So wichtig wie das Politische ist das Soziale, so wichtig wie das Sichtbare sind für Baruch stets die Lücken, die Durchsichten und Trasparenz. “Une chambre vide” hieß im Jahr 2009 ein Projekt, das buchstäblich um Leere kreise: Die Künstlerin räumte dafür ein ZImmer in ihrer Pariser Wohnung frei, um für einen Monat lang jeden Nachmittag, wenn die Sonne ein kleines Rechteck auf das Parkett zeichnete und als Schatten ein typisch französisches Balkongeländer zeigte, zum Gespräch zu laden – Nachbarn, Geflüchtete, Passanten. Nicht um die Erkundung irgendeiner spirituellen Dimension der Leere ging es dabei, sondern um Gastfreundschaft, das Glück des Austausches, die Geste der Einladung.
Ihr Interesse an Textilien begann etqa zur selben Zeit. Zu ihrem 80. Geburtstag ließ Baruch sich einen großen Hut anfertigen, den sie als Skulptur auf dem Kopf trug und von Gast zu Gast wandern ließ. Die Aktion war Teil der Trilogie “Mon corps, où es-tu?”, die zwischen 2009 und 2010 ebenfalls in ihrem Pariser Appartement sowie im Musée de l’Homme stattfand und ihr Interesse am Austausch, an der Sprache und an unvorhergesehenen Begegnungen unterstreicht.
“Sprache ist wesentlich”, sagte Baruch einmal, “denn die Übersetzung von einer Sprache in eine andere ist nie perfekt möglich. Sie ist in gewisser Weise immer etwas anderes, und das ist ein großer Reichtum. Sprchen sind für mich essenziell. Es gibt einen englischen Philosophen, der sagt, dass jemand, der nur eine Sprache kennt, seine eigenen Sprache nicht kennt. Ich finde mich in diesem Konzept wieder. Sprache und Übersetzung sind zentrale Punkte in meinem Leben gewesen.”
Bei den neuen textilen Arbeiten bildet all das quasi die Folie im Hintergrund. Für “Entrare nel linguaggio” arbeitet Baruch ausschließlich mit schwarzen und roten Stoffen, die sie trotz ihrer zunehmenden Sehschwäche noch wahrnehmen kann. Sich aufhalten zu lassen auf ihrem eigenen Weg bleibt weiterhin keine Option.