Das Gewicht einer Farbe: Clara Brörmann

Galerietext zur Ausstellung von Clara Brörmann bei Schwarz Contemporary im Auftrag der Künstlerin – englisch

Körperlichkeit und Abstraktion bilden in der Malerei von Clara Brörmann keine Gegensätze. Im Gegenteil: Der menschliche Körper ist stets zentraler Bezugspunkt. Brörmanns Bilder brauchen ein Gegenüber, das sich zu ihnen in Relation setzt und sich ihnen dynamisch im Raum annähert. Rhythmisch angeordnete Formen halten das Auge schon bei oberflächlicher Betrachtung in Bewegung, um die Bilder ganz erfassen zu können, reicht es jedoch nicht, ihnen frontal gegenüberzustehen. Man muss um sie herumgehen, sie von allen Seiten, aus Nähe und Distanz betrachten.

‚Das Gewicht einer Farbe‘ hat Brörmann ihre aktuelle Einzelausstellung bei SCHWARZ CONTEMPORARY genannt und schließt damit gewissermaßen an den Titel ihrer vorherigen in der Whitehouse Gallery ‚Anatomy of Colour‘ an. Körper haben – zumindest solange die Schwerkraft auf sie wirkt – auch ein Gewicht. ‚Das Gewicht einer Farbe‘ kann wörtlich verstanden werden, physisch also, oder auch im übertragenen Sinne.

Dass das menschliche Auge Farben tatsächlich als unterschiedlich schwer wahrnimmt, haben die Neuropsycholog*innen Elizabeth Pinkerton und Nicholas Keynes Humphrey im Jahr 1974 in einer grundlegenden Studie untersucht. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass es nicht nur die Helligkeit sei, die dabei entscheide. So habe Rot, wie man in ihrem Aufsatz ‚The apparent heaviness of colours‘ im Magazin Nature1 nachlesen kann, unabhängig davon ein höheres visuelles Gewicht als Blau, Grün, Orange und Gelb.

Die Innenarchitektur macht sich solche Wirkungen bei der Gestaltung von Räumen zunutze. Auch beim Betrachten der Bilder Brörmanns kann man ähnliche Effekte beobachten, schließlich öffnen sie ebenfalls Räume; Farbräume, Spielräume, Denkräume, Räume, die zum Teil aus den Bildern herausführen.

Brörmanns Sujets setzen sich aus schwebenden Formen zusammen, aus Kreisen, Bögen und Linien, die nebeneinander, sich teilweise überlappend positioniert werden. Geometrische, zeichenhafte, oft symmetrische Kompositionen entstehen auf diese Weise, die wie ineinander verwoben wirken. Theoretisch könnte man die Gemälde drehen, um 90 oder auch 180 Grad, in die eine wie die andere Richtung. Welche Orientierung für ein Bild die richtige ist, entscheidet Brörmann zum Teil erst zum Schluss. Die Bereitschaft, immer wieder den Blickwinkel zu wechseln, umzudenken, alles neu zu denken ist Voraussetzung für ihren malerischen Prozess wie auch die Rezeption.

Farbe betrachtet die Künstlerin primär als ein Material mit plastischen Eigenschaften. Es gehe ihr nicht darum, ein flaches Bild zu entwerfen, erklärt Brörmann, vielmehr wolle sie etwas fast Skulpturales entstehen lassen. Sie arbeitet mit Pigmenten und Ölfarben, mit Acrylbinder, manchmal auch mit Tusche. In Schichten trägt sie die Farben auf, sodass die Bilder tatsächlich ins Dreidimensionale wachsen. Niemals mischt sie Ölfarben vorher an, sie benutzt sie so, wie sie aus der Tube kommen, Nuancen entstehen allein durch die Art und Weise, wie sie Farbflächen übereinanderlegt. Deutlich wird das an den seitlichen Rändern ihrer Arbeiten oder an den Stellen, die sie später mit dem Cutter bearbeitet.

Brörmann verpasst unterschiedlichen Farbkörpern unterschiedliche Farben, deckende Ölfarbe oder lasierenden, mit Pigmenten gemischten Acrylbinder. Lange Zeit benutzte sie Acrylbinder vor allem als Mittel zum Zweck, trug ihn auf die Leinwand auf, über und unter Farbe, um ihn später wieder herunterzureißen und damit ihre eigene Bildkonstruktion fragmentarisch auseinanderzunehmen. Inzwischen integriert sie den Acrylbinder als eigene, wenn auch durchsichtige Farbe. Ihre Malerei entsteht in einem langwierigen Prozess, bei der es der Künstlerin keineswegs um Perfektion geht. Risse, die etwa beim langsamen Trocknen der Farbe entstehen oder kleine Fehler auf der mit Schleifpapier glattgeschmirgelten Oberfläche lässt sie bewusst stehen, um sichtbar zu machen, „dass Leben darin steckt“.

In ihrem Studium malte sie zu Beginn noch figurativ, menschliche Figuren, in die sich die Betrachter*innen hineinversetzen konnten. Irgendwann stellte die Künstlerin fest, dass diese eigentlich gar nicht nötig waren, um das auszudrücken, worum es ihr geht. Vielleicht sogar eher ablenken. Sie spricht davon, dass sie mit ihrer Malerei „Momente schaffen“ wolle und dass sie es für falsch halte, das Körperliche und das Geistige voneinander getrennt zu denken. Damit sich Betrachter*innen in diesen Momenten individuell wiederfinden können, braucht es die Offenheit der Abstraktion. Clara Brörmanns Abstraktion ist jedoch eine, die auf den Menschen verweist, dahinter wie davor.

1 Elizabeth Pinkerton & N. K. Humphrey, The apparent heaviness of colours. In: Nature 250, 164–165 (1974).