Gallery Weekend: Ein Rundgang
Erschienen in Die WELT am 28. April 2018 – online
…
So elastisch wie die Einzeller
Einer Illusion darf man nicht aufsitzen: an drei Tagen alle Ausstellungen besuchen zu können. Nicht einmal annähernd ist das zu schaffen, auch nicht im Vorbeigehen, wofür sich manche Galerien ja geradezu anbieten. Bei Nagel Draxler ist es so, dass man schon von der Straße aus sehen kann, was einen drinnen erwartet. „Schaufenster“ nennen die Mitarbeiter die Räume auf der Weydingerstraße. Der zweite Ausstellungsraum, auch am Rosa-Luxemburg-Platz, ist zwar im Hochparterre, verfügt aber auch über große Fensterfronten: die „Vitrine“.
Für Sayre Gomez waren diese architektonischen Eigenschaften der Ausgangspunkt zweier Serien von Malerei, und es kommt zu einer merkwürdigen Spiegelung der Achsen: Man schaut durch die Fenster von außen auf Bilder, auf denen man von innen nach außen durch Fensterscheiben blickt.
Auf jeden Fall hineingehen muss man bei BQ – und dabei aufpassen, dass einem kein Kaugummi am Schuh haften bleibt. Die hat Leda Bourgogne dort nämlich auf dem Galerieboden platt gedrückt und mit einem Gedicht beschrieben. Wer nun an Hannah Wilke denkt, die in den Siebzigern ihren nackten Körper mit Kaugummis beklebte, liegt nicht falsch.
Auch Bourgogne beschäftigt sich mit Körperlichkeit: Die Stoffe, mit denen sie ihre Keilrahmen bespannt, ähneln menschlicher Haut, die Bourgogne jedoch alles andere als pfleglich behandelt. Dazwischen hängt Kleidung der Künstlerin von der Decke, und deformierte CD-Ständer recken ihre Wirbelsäulen in die Höhe. Angesichts des Gender Show Gaps des diesjährigen Gallery Weekend von 40 Prozent freut man sich über diese eigenwillige weibliche Position gleich doppelt.
Die Menschheit als Einzeller
Bei Dittrich & Schlechtriem bietet Andreas Greiner einen Einblick in seine Vision der Zukunft. Ziemlich finster ist sie und stockdunkel. Nur so kann man die biolumineszierenden Algen leuchten sehen, mit denen er arbeitet, und es passt zu dem dystopischen Text des Hörspiels, in dem sich die Menschheit zum Einzeller zurückentwickelt. Was bedeutet Leben? Auch Greiners ungeheure Porträts von Darmkrebszellen oder menschengemachten Bakterien geben darauf keine Antwort.
Yngve Holen, der sich hartnäckig an den neuesten Technologien des Alltags abarbeitet, präsentiert in der Linienstraßen-Galerie Neu Fragmente von Autofelgen. Er hat sie aus einem Material nachbilden lassen, das für den Künstler ungewöhnlich ist: Die 3-D-gescannten, vergrößerten Mittelstücke von SUV-Felgen ließ er aus Brettsperrholzplatten nachfräsen. Interessanterweise erinnern sie an Blumenornamente norwegischer Volkskunst – ein Sinnbild für die Schizophrenie des Landlust-Lifestyles SUV-fahrender Großstädter.
Um eine andere Art des Zusammenlebens geht es bei KOW in der Brunnenstraße. Los Carpinteros zeigen Arbeiten, die von der Diskrepanz zwischen Vision und Wirklichkeit im sozialistischen Kuba erzählen. Im Video „Comodato“ fährt die Kamera durch zwölf Zimmer eines Hauses. Es beginnt im puren Luxus und endet in Armut. Das ist keine Abrechnung, sondern zeigt die Ambivalenzen der Gegenwart auf, was sich eindrucksvoll in einer Skulptur aus unzähligen Ziegeln manifestiert: Sie ist kunstvoll und funktionslos zugleich – eine echte Entdeckung.