Isabelle Graeff in der Galerie Sexauer: Danke, Brexit!

Erschienen am 20. Mai 2018 in WELT am Sonntag

Die britische Entscheidung inspirierte Isabelle Graeff zu einer Fotoserie – und half ihr bei einem Neuanfang. Ihr Berliner Galerist hat den bereits hinter sich

Manchmal ergeben Dinge erst retrospektiv einen Sinn. So etwa bei den Bildern, die Isabelle Graeff unter den Titel „Exit“ fasst: Im Jahr 2015 war die Fotografin nach England zurückgekehrt, wo sie Jahre zuvor studiert hatte. Kurz vor der Reise hatte sie ihren Vater verloren, suchte an diesem Wendepunkt ihres Lebens nach Wurzeln. Ein konkretes Ziel gab es nicht. Ihr Plan war nur, mit der Kamera an ihrer Seite möglichst viel von Britannien zu sehen. Dass sich wenig später eine Mehrheit der Briten für den Brexit entscheiden sollte, das hatte sie nicht auf dem Schirm.

„Jede Fotografie ist eine Art Memento mori“, schrieb die Kulturkritikerin Susan Sontag 1977 in ihrem Buch „Über Fotografie“. Fotografieren bedeute teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreife und erstarren lasse, bezeugten alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit. Auf Graeffs Fotos, die jetzt in der Galerie Sexauer präsentiert werden, scheint das in besonderem Maße zuzutreffen. Graeff richtet die Kamera auf ein Land in der Krise, auf Menschen, Landschaften, Architekturen, auf allen hat der Verfall Spuren hinterlassen.

Zum Beispiel das Bild „Blackpool II“: In großen Lettern prangt „Happy Dayz“ von der Fassade eines Spielsalons. Bei Dunkelheit werden die kleinen Lichter daran leuchten, vielleicht macht er dann noch etwas her. Auf Graeffs Aufnahme ist es heller Tag, und das Licht schönt nichts, verbirgt keinen Schmutz, keine Alterserscheinungen. Die glücklichen Tage sind längst vorbei, überall im Badeort Blackpool. Graeffs Stillleben sind gespickt mit Vanitas-Motiven, mit den Verfallszeichen der Zeit. Saftig rote Äpfel, angebissen, Vorhänge ausgeblichen, Hortensien halb verblüht und die Spuren im Sand sind auch schon gleich verweht. Die Menschen aber stehen auch für eine gewisse Zuversicht.

Graeff arbeitet intuitiv und subjektiv. Sie sagt, sie entwickle ihre Projekte aus ihrem Leben heraus. So sei es immer bei ihr. 2010 war ihr mit der Serie „My Mother and I“ der Durchbruch gelungen, einer Langzeitbetrachtung der Beziehung zu ihrer Mutter. Graeff inszeniert nicht. Sie fotografiert analog, ausschließlich. Warum? Weil es für sie nur so funktioniere. „Ein digitales Bild bedeutet mir nichts“, sagt sie. Vielleicht ist das so, weil sie – so kitschig das klingen mag – nach der Seele sucht, der Seele der Dinge und der Menschen, sich dabei aber immer selbst als Person mit in die Waagschale wirft und sich beides, die Einfühlung in andere und die Selbstexposition, mit Photoshop nicht verträgt. Graeff ist eine Romantikerin. In ihrem vielleicht schönsten Bild spiegelt sich das deutlich wider: Eine junge Frau von hinten. In der Manier Caspar David Friedrichs dem Meer zugewandt. Sie trägt aufwendig geflochtene Zöpfe, der linke schwarz, der rechte blond.

Jeder Abschied ist immer auch ein Neuanfang. Das gilt für das England ihrer Bilder wie für die Fotokünstlerin selbst. Fragt man den Galeristen Jan-Philipp Sexauer, was ihn an Graeffs Fotografie überzeugt habe, überlegt er kurz und sagt dann, dass ihn fasziniere, wie Graeff die ganze Weite menschlichen Lebens abbilde und trotz einer großen Spanne an Sujets mit ihrer Bildsprache wiedererkennbar bleibe.

Sexauer ist keiner, der sein Publikum mit kunstgeschichtlichen Interpretationen zu beeindrucken versucht. Kunsthistoriker ist er gar nicht. Und auch sonst eine Ausnahmeerscheinung unter seinen Berliner Kollegen. Mit Mitte 40 hängte er seine Karriere als Anwalt an den Nagel, um sich ganz der Kunst zu widmen. Kuratiert hatte er schon vorher, außerdem Kulturveranstaltungen organisiert. Erfahrungen als Galerist hingegen: null. In seinem Zugang zur Kunst ähnelt er denn auch ein wenig dem seiner Künstlerin zur Fotografie: Zunächst ist alles ganz intuitiv, erst dann folgt die Analyse.

„Ich mag, wenn Sachen doppelt kodiert sind“, sagt er, „wenn Künstler eine klare konzeptionelle Vorstellung haben, aber dennoch in den einzelnen Arbeiten das Konzept nicht alles überlagert.“ Er möge Kunst, an der man hängen bleibe, weil sie erst die Sinne anspreche, dann den Intellekt. So wie das bei den Arbeiten von Jeewi Lee der Fall ist, die Sexauer immer wieder als Beispiel heranzieht. Die Künstlerin, aktuell Stipendiatin in der Villa Romana, beschäftigt sich mit Alltagsspuren, die normalerweise übersehen werden, jedoch auf gesellschaftliche Prozesse verweisen.

Sexauer erzählt davon im Salon neben dem Ausstellungsraum. Manches läuft anders bei ihm. Muss es auch. Er hat seine Räume im Oktober 2013 in Berlin-Weißensee eröffnet, der abseitige Stadtteil liegt gerade auf der Route der Kunstflaneure. Das übliche Eröffnungsprogramm von 18 bis 21 Uhr mit anschließendem Dinner im Restaurant gibt es bei Sexauer auch nicht. Stattdessen lädt er am Abend vor der Eröffnung zur Preview. Auch sein Salon ist dann offen, wo Menschen in tiefen Polstersesseln im Gespräch zusammenfinden.

„Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn ich meine Galerie an der Potsdamer Straße hätte“, erzählt Sexauer. Räume hatte er sich auch dort, einem der momentan angesagtesten Galerieviertel angesehen. Als der Maler Jonas Burgert, dessen riesiges Ateliergelände gleich neben der Industriehalle in Weißensee liegt, irgendwann meinte „Komm doch zu uns“, war das noch ein Scherz. „Erst mit der Zeit ging mir auf, wie genial dieser Raum eigentlich ist, und ich begann mich zu fragen, ob es denn nicht vielleicht doch ginge“, erzählt er. Mittlerweile sei er froh, ohne Laufpublikum in Ruhe arbeiten zu können. Wer interessiert sei, komme ja trotzdem.

Kürzlich erst zum Artist Weekend „Ngorongoro“, das Burgert und seine Künstlerfreunde Christian Achenbach, Andrej Golder, John Isaacs, Andreas Mühe und David Nicholson organisiert hatten. Sexauer stellte dafür auch seine Räume zur Verfügung. Es wurde voll und die Veranstaltung ein Erfolg, auch wenn einige sie wegen der ungleichen Geschlechterverteilung als „Boys’ Club“ kritisierten. Sexauer steuerte immerhin Arbeiten von Jeewi Lee bei.

Der Quereinsteiger hat sich seinen Platz in der Kunstszene erkämpft und bekam dafür 2017 als Bestätigung den neu gegründeten Kunstpreis der Berliner Galerien samt Preisgeld von 10.000 Euro verliehen. „Längst verbraucht“, sagt er. Galerist ist ein teurer Beruf. Aber wohl auch ein schöner. Auch wenn Sexauer einem gern erklärt, dass sich die Berufe des Anwalts und des Galeristen mehr ähneln, als man denke. Generalist sein müsse man hier wie da, beide seien außerdem Dienstleister. Und was sind die Unterschiede? Der größte sei dieser: „Wenn ich Fälle erfolgreich zu Ende gebracht hatte, packte ich die Akten weg und habe sie nie wieder angeschaut.“ Als Anwalt arbeite man, um zu vergessen. Beim Galeristen sei es umgekehrt. „Jetzt arbeite ich, um mich zu erinnern.“ Dieses Arbeitsethos teilt er mit Isabelle Graeff, seinem neuesten Fall.

Isabelle Graeff, „Exit“, bis zum 9. Juni 2018, Galerie Sexauer, Berlin

Beate SchederWelt, Kunst