Magnus Plessen in der Galerie Daniel Marzona: Schablonen des Schreckens

Erschienen in WELT am Sonntag am 6. Mai 2018

Wie kann man Kriegsleid erfahrbar machen, das man nicht selbst erlebt hat? Der Maler Magnus Plessen will, dass wir orientierungslos werden und den Halt verlieren, wie die Figuren in seinen Gemälden von der Front

 Das Grauen und seine Gesichter. Was Ernst Friedrich in dem Buch „Krieg dem Kriege“ an Fotografien zusammentrug, ließ seine Zeitgenossen erschaudern. Der Erste Weltkrieg lag erst wenige Jahre zurück. Im Ausmaß seiner Verwüstung und der Zerstörungskraft seiner Waffen hatte er alles bisher Dagewesene übertroffen. Dies zu zeigen, brutal und ungeschönt, war Friedrichs Anliegen, und zwar mit Bildern, nicht mit Worten: „Aller Wortschatz, aller Menschen, aller Länder, reicht in aller Gegenwart und Zukunft lange nicht, um dieses Menschenschlachten richtig auszumalen. Hier aber ist das nüchtern-wahre, das gemein-naturgetreue Bild des Krieges – teils durch Zufall, teils durch Absicht – fotografisch festgehalten.“

Die Sätze stammen aus der Einleitung des Buches, das im Jahr 1924 erstmals veröffentlicht wurde. Kaum auszuhalten ist es heute noch, den Fotoband durchzublättern. Man sieht Bilder von der Front und aus Lazaretten, die der heroischen Darstellung von Soldaten radikal zuwiderlaufen. Sie zeigen Massengräber und Schlachtfelder, Hinrichtungen, Blutlachen, verwundete und verstümmelte Soldaten, Menschen, denen Gliedmaßen fehlen oder denen an Stelle von Nase oder Mund Wunden klaffen, deren Gesichter von Sprenggranaten zersplittert wurden. Es sind Bilder, die sich nicht so einfach verdrängen lassen. „Krieg dem Kriege“ war das erste Buch, das die Tötungsmaschinerie, die mit dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahm, so explizit dokumentierte.

Jahrelang lag das Buch im Atelier von Magnus Plessen. Immer wieder nahm der Künstler es zur Hand, schreckte dann aber doch davor zurück. Wie könnte er sich diesem Thema widmen, das ihn faszinierte, aber auch beunruhigte? Plessen, geboren 1967 in Hamburg, arbeitete als Fotograf und Kameramann, bevor er sich der Malerei zuwandte. Die Frage, ob sie der Fotografie etwas und wenn ja, was, entgegensetzen kann, treibt ihn noch immer um. Oft haben die Bilder, an denen er sich abarbeitet, einen Bezug zur Psychologie. In frühen Gemälden nahm er sich etwa alte Fotos von Jean-Marie Charcot zum Vorbild, die der französische Neurologe im 19. Jahrhundert von einer Patientin aufgenommen hatte, der Hysterikerin Augustine.

Damals blieb Plessen noch nah an den Vorlagen. Anders bei seiner Serie zu Friedrichs „Krieg dem Kriege“, aus der gerade der neue Zyklus „1914“ in der Galerie Daniel Marzona in Berlin ausgestellt ist (95.000 bis 120.000 Euro). Plessen stellt weniger die physischen Verletzungen dar, auch wenn diese in seinen Bildern durchaus zu erkennen sind. Vielmehr interessieren ihn die Traumata der Soldaten, die mit diesen Entstellungen weiterleben müssen – und das in einer Zeit, in der von Traumata noch keine Rede war.

Wie stellt man also etwas dar, was nicht sichtbar ist? Und das mit Farbe und Pinsel? Als Maler rettet sich Plessen in die Abstraktion, ohne sich freilich ganz von der Gegenständlichkeit zu verabschieden. Er spitzt seine Sujets zu, anders jedoch als etwa Otto Dix oder George Grosz, die in ihren Gemälden aus den Zwanzigerjahren die Grausamkeit jenes Krieges versachlichten, den sie selbst noch an der Front in den Schützengräben erlebt hatten. Plessens zeitgenössische Perspektive musste zwangsläufig eine andere sein. Es ist die des Nachgeborenen, nicht die des unmittelbar Betroffenen.

Plessens Mittel sind Defragmentierung und Desorientierung. Einzelne Figuren auf seinen Leinwänden lassen sich nie komplett identifizieren. Fleischig rosa grenzen sich rumpflose Gliedmaßen, Arme, Beine, Schultern, fratzenhafte Gesichter von tiefschwarzen Schatten und Schädeln ab. Dazwischen sind Freistellen zu sehen, die Plessen weiß gelassen hat, so als kämen irgendwann noch Figuren hinzu oder seien aus dem Bild wieder gelöscht worden. So ergeben sich seltsame Körperassemblagen, die in ihrer Tragik an Frankensteins Monster erinnern und an Hans Bellmers Puppenskulpturen.

Die neuen Arbeiten bei Daniel Marzona sind im Vergleich zu früheren aus der Serie – die erste Ausstellung zeigte Plessen 2014 in der Galerie Konrad Fischer, deren Berliner Dependance Marzona damals leitete – weniger düster. Das Leben nimmt in ihnen wieder überhand, sowohl was die Farben als auch was die Sujets betrifft: Die Sonne leuchtet gelb vom Bildhimmel, Spielkarten liegen auf dem Tisch, Blumen wachsen aus dem dunklen Grund.

Das erste Bild in der Ausstellung ist das älteste in der neuen Werkgruppe. Es bildet das Verbindungsglied zu den früheren, düsteren. Die tiefschwarze Farbe, mit der Plessen das existenziell Bedrohliche auf die Leinwand bringt, nimmt noch Raum ein, doch die Figuren versinken nicht mehr darin, sie schwimmen vielmehr obendrauf. Besonders macht das Gemälde auch, dass man es hochkant oder quer betrachten kann: im Hochformat, wie es hier gedruckt ist (die mittlere Abbildung), oder im Querformat, wie es in der Galerie hängt. Tatsächlich wurde das Bild im Prozess des Malens mehrmals gedreht.

Das ist einer der Tricks, mit denen Plessen seine Figuren haltlos wirken lässt. Sie haben buchstäblich den Boden unter ihren Füßen verloren, und der Betrachter verliert seine Orientierung gleich mit. Die Verwirrung hat Methode. So kommt es, dass unser Blick im Zickzack unsicher über die Leinwand wandert. Hängen bleibt er vielleicht bei der übergroßen Hand, die einen Schädel hält, als handle es sich um eine Bowlingkugel. Aber wo kommt der Arm, an dem die Hand hängt, überhaupt her? Gehört er zu der Person, deren Gesicht halb hinter einer grauen Maske verborgen ist, oder wächst er vielleicht doch aus jenem losen Bein heraus?

Plessen benutzt beim Malen Schablonen, die er zu Beginn seines Malprozesses auf der Leinwand verteilt und mit Tape festklebt: Fragmente von Körpern, aber auch Hüte, die zu surrealen Substituten von Gesichtern werden. All das arrangiert er so, dass die Elemente wie über dem Bildgrund schweben. Seine Figuren erinnern an Anziehpuppen aus Papier. Das liegt auch an ihrer Flachheit und der Art, wie Plessen die Farbe aufträgt, wieder abträgt oder wegtupft. Eine Bildräumlichkeit gibt es nicht mehr, Figur und Grund fallen in eins. Charaktere sind nicht zu identifizieren.

Wie auch Friedrich in „Krieg dem Kriege“ geht es Plessen in „1914“ um das Kollektivschicksal. Nicht das Individuum steht im Fokus, sondern das vermeidbare Elend, das Leid der vielen. Deshalb tragen Plessens Gemälde keine Titel, man könnte sie endlos durchnummerieren. An Aktualität verloren haben sie angesichts der Flut an immer neuen Bildern aus den Krisenregionen unserer Zeit ohnehin nichts.

Magnus Plessen, bis 9. Juni 2018, Galerie Daniel Marzona, Berlin

Beate SchederWelt, Kunst